Winterproblem Mittelohr – oft sehr schmerzhafte Kinderkrankheit

Erfahrene Kinder- und Jugendärzte wissen genau, was in den nächsten Monaten auf sie zukommt: Zwischen Dezember und März werden ihre Praxen wieder voll sein von schmerzerfüllt weinenden oder qualvoll jammernden Babys und Kleinkindern – Mittelohrentzündungen haben in dieser Zeit Hochsaison. Die Statistik klingt bedrohlich: Nach Angaben der „Stiftung Kindergesundheit“ werden sechs Prozent aller kleinen Patienten wegen einer Mittelohrentzündung dem Kinderarzt vorgestellt. Bis zum Ende des dritten Lebensjahres haben 75 Prozent aller Kinder eine akute Otitis media (abgekürzt AOM, so die Fachbezeichnung) durchgemacht, 30 Prozent sogar mehr als dreimal!

In manchen Familien kommen Mittelohrentzündungen besonders häufig vor, vermutlich als Folge der besonderen anatomischen Verhältnisse im Ohr, die das Kind von den Eltern geerbt hat. Jungen haben häufiger Mittelohrentzündungen als Mädchen, Kinder mit Geschwistern häufiger als Einzelkinder, Stadtkinder eher als Landbewohner, Flaschenkinder etwas öfter als gestillte Babys.

„Kinder, die in Krippen, Tagesstätten oder Kindergärten betreut werden, haben ebenfalls ein höheres Ansteckungsrisiko“, sagt Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. „Durch den ersten Kontakt mit vielen Kindern kommt es vermehrt zu Atemwegsinfekten und infektiösen Erkrankungen des Ohres. Je früher ein Kind in die Gruppenbetreuung kommt, umso eher wird es seine erste Mittelohrentzündung durchmachen“.

Ein besonderes Risiko sind allerdings die Eltern selbst: Babys, die passiv rauchen müssen, erkranken dreimal häufiger an einer Mittelohrentzündung, besonders dann, wenn die Mutter raucht. Allein schon deshalb sollten alle Erwachsenen auf das Rauchen in der Nähe von Babys und kleinen Kindern verzichten.

Wenn sich Viren mit Bakterien verbünden

Am Anfang der Krankheit steht meistens eine Virusinfektion, zum Beispiel eine Erkältung oder eine der virusbedingten Kinderkrankheiten wie etwa Masern. Die Viren schädigen die Schleimhäute in Mund und Nase und ebnen damit den Weg für diverse Bakterien, die dann im Ohr zur Entzündung führen.

Eine weitere häufige Ursache sind Polypen (medizinisch Adenoide), drüsenähnliche Wucherungen der Rachenmandeln, die den Ausgang der Ohrtrompete zum Rachen hin verengen. Sie schwellen während eines Infekts weiter an und behindern das regelmäßige Belüften des Mittelohrs.

Je kleiner, umso eher bedroht

Das Mittelohr ist ein kleiner Hohlraum, der durch das Trommelfell nach außen, zum Gehörgang hin abgeschlossen ist. Es muss jedoch belüftet werden. Das geschieht durch eine Verbindung in den Rachenraum. Diese so genannte Eustachische Röhre, auch Tube oder Ohrtrompete genannt, sorgt dafür, dass der Luftdruck auf beiden Seiten des Trommelfells gleich hoch ist. Diese Verbindung ist bei Babys und kleinen Kindern kürzer, aber weiter als bei Erwachsenen. Erreger können deshalb aus Mund oder Nase leichter zum Ohr hinaufwandern.

In der Paukenhöhle (das ist der Raum hinter dem Trommelfell, wo sich die Gehörknöchelchen befinden) staut sich bei einer Entzündung Gewebsflüssigkeit, die nicht abfließen kann. Oft bildet sich auch Eiter. Beim Schlucken ist kein Druckausgleich zwischen Innen- und Außendruck möglich. Das Kind empfindet heftige, stechende oder klopfende Ohrenschmerzen.

Bei Babys und kleinen Kindern ist die Krankheit oft nicht auf Anhieb zu erkennen, weil sie bei ihnen häufig ohne Fieber auftritt. Das Kind macht meist einen abgeschlagenen und schlappen Eindruck, wirkt aber gleichzeitig unruhig und gereizt. Es leidet oft unter Bauchschmerzen und Durchfall, schreit viel und lässt sich auch durch Herumtragen nicht beruhigen.

Den entscheidenden Hinweis darauf, worunter das Baby leidet, liefert oft das Ohrenwetzen: Das Kind wackelt  mit dem Kopf, reibt immer wieder am Ohr und liegt im Bett immer auf der kranken Seite. Bereits ein geringer Druck oder Zug am Ohr, zum Beispiel beim Waschen oder Baden löst Schmerzensschreie aus.

Gefahr für Gehör und Sprache

Das Problem der Krankheit sind nicht die Schmerzen allein, sondern auch die möglichen Komplikationen, betont die Stiftung Kindergesundheit in ihrer aktuellen Stellungnahme. Ein häufiges, schwerwiegendes Begleitsymptom der Mittelohrentzündung ist eine Hörminderung – das Kind hört schlecht. Professor Koletzko: „Das passiert ausgerechnet in einem Alter, in dem sich intellektuelles Verständnis und die Sprache in einem besonders stürmischen Tempo entwickeln. Schon eine vier Wochen andauernde Schwerhörigkeit kann zu einer Sprachentwicklungsstörung führen. Deshalb muss bei Verdacht auf eine Mittelohrentzündung der Kinder- und Jugendarzt möglichst schnell zu Rate gezogen werden“.

Eine weitere, weitaus seltenere, aber schwerwiegende Komplikation ist die Entzündung des Warzenfortsatzes (des so genannten Mastoid-Knochens), den man hinter der Ohrmuschel ertasten kann. Die Häufigkeit liegt bei vier Fällen von Mastoiditis auf 100.000 AOM-Erkrankungen. Die Symptome sind länger andauerndes Fieber, Schmerzen bei Druck und Berührung, eine rötliche Schwellung hinter der Ohrmuschel. Die Entzündung kann auf die Hirnhäute übergreifen und eine Meningitis zur Folge haben. In diesem Fall ist eine Behandlung mit Antibiotika unumgänglich.

Immer gleich Antibiotika oder erst abwarten?

Über die notwendige Behandlung einer Mittelohrentzündung gibt es gelegentlich unterschiedliche Auffassungen zwischen den Ärzten verschiedener Fachrichtungen. Und auch zwischen Eltern und Ärzten gibt es häufig Diskussionen: Eine Mittelohrentzündung ist nämlich der häufigste Grund für den Einsatz von Antibiotika bei Säuglingen und Kleinkindern. Ob und wann Antibiotika aber tatsächlich notwendig und sinnvoll sind, diese Frage lässt sich häufig nicht eindeutig zu beantworten, stellt die Stiftung Kindergesundheit fest.

Bis vor wenigen Jahren gehörten Antibiotika in den meisten Industrieländern zur Standardbehandlung einer Mittelohrentzündung, und auch heute wird in den USA, in Deutschland oder England die Mehrheit der Kinder damit behandelt, während in den Niederlanden der Anteil der Antibiotikatherapie bereits unter 32 Prozent liegt.


Die Entscheidung fällt aus mehreren Gründen schwer:

Der Arzt kann nicht auf Anhieb erkennen, ob die Entzündung von Viren oder von Bakterien verursacht wird. Antibiotika bekämpfen nur Bakterien, gegen Viren sind sie wirkungslos und damit unnütz, aber teuer und auch mit Nebenwirkungen behaftet.

Der Nutzen einer antibiotischen Behandlung wird oft überschätzt. In den allermeisten Fällen heilt die Mittelohrentzündung nämlich ganz von allein. Bei Kindern über zwei Jahren bilden sich die Beschwerden in etwa 80 Prozent der Fälle innerhalb von zwei bis spätestens 14 Tagen zurück, ganz gleich, ob das Kind ein Antibiotikum bekommen hat oder lediglich mit einem Schmerzmittel behandelt wurde.

Die zu schnelle und zu häufige Verordnung von Antibiotika erhöht die Gefahr, dass sich viele bakterielle Erreger Resistenzen gegen diese so hilfreichen Mittel entwickeln. Wird irgendwann tatsächlich einmal ein Antibiotikum benötigt, hilft es dann möglicherweise nicht mehr. Trotzdem bekommt nahezu jedes zweite Kind hierzulande pro Jahr ein Antibiotikum verordnet. Besonders häufig greifen Allgemeinärzte zum Rezeptblock: Bei ihnen bekommen Kinder schon bei einer Erkältung in 43 Prozent der Fälle ein Antibiotikum verschrieben, bei einem Kinder- und Jugendarzt dagegen passiert es nur bei 29 Prozent.

Kann man das Kind schützen?

Bis vor kurzem ist man davon ausgegangen, dass es keine Vorbeugung gegen die Mittelohrentzündung gibt. Mit der Einführung des Impfstoffs gegen Pneumokokken wurde allerdings beobachtet, dass diese Impfung auch gegen die Mittelohrentzündung einen gewissen Schutz bieten kann. Auch die Impfung gegen Influenza (sie wird für Kinder mit Grunderkrankungen empfohlen) verringert die Häufigkeit von Mittelohrentzündungen.

Keinen vollkommenen, jedoch einen gleich doppelten Schutz gegen Mittelohrentzündungen bietet das Stillen. Professor Koletzko: „Die Muttermilch enthält eine Reihe von Abwehrstoffen, die miteinander zusammenwirken und Infektionen und Entzündungen verhindern können. Darüber hinaus entsteht beim Saugen ein Drainage-Effekt im Ohr des Babys, was die Durchlüftung der Ohrtrompete erleichtert“.

Tropfen in die Nase, nicht ins Ohr!

Ein Kind mit Mittelohrentzündung gehört immer zum Arzt, unterstreicht die Stiftung Kindergesundheit mit großem Nachdruck. Der Kinder- und Jugendarzt wird zur Bekämpfung der Beschwerden und zur Senkung des Fiebers Schmerzmittel wie Ibuprofen oder Paracetamol empfehlen. Von einer Behandlung des Ohrs mittels Ohrentropfen raten die meisten Kinder- und Jugendärzte und HNO-Ärzte ab. Statt Ohrentropfen wird die Mittelohrentzündung mit abschwellenden Nasentropfen behandelt. Sie verbessern die Durchlüftung des Mittelohrs. Das Kind sollte außerdem reichlich Flüssigkeit erhalten.

Als Hausmittel zur Linderung der Schmerzen eignet sich Wärme in jeder Form: Zum Beispiel eine Wärmflasche, eine Wattepackung oder die Bestrahlung des Ohrs mit einer Rotlichtlampe. Als bewährtes Hausmittel gilt in vielen Familien die Zwiebel: Sobald sie gequetscht wird, bildet sie schwefelhaltige Stoffe, die Viren und Bakterien bekämpfen und stark entzündungshemmend sind. Verwendet wird sie als Zwiebelsäckchen, das auf das kranke Ohr gelegt wird.

Halten die Schmerzen des Kindes trotz Antibiotika, abschwellender Nasentropfen, Fieber- und Schmerzmittel an, bleibt manchmal nur ein Ausweg: Das Trommelfell des Kindes operativ zu öffnen (Parazentese). Das macht der HNO-Arzt entweder mit einem feinen Messer oder häufig auch mit Hilfe von Laserstrahlen. Diese Maßnahme schafft einen Weg, über den der Eiter aus dem Mittelohr abfließen kann. Dadurch werden die Ohrenschmerzen oft schlagartig behoben. Das verletzte Trommelfell verheilt innerhalb einiger Tage, das Hörvermögen normalisiert sich.

Sind Polypen die Ursache der Belüftungsstörung und der wiederholten Mittelohrentzündungen, raten Kinderärzte und HNO-Ärzte übereinstimmend zu ihrer Entfernung (Adenotomie). Die Wucherungen erschweren vor allem nachts die Atmung durch die Nase, das Kind schnarcht, schläft schlecht und leidet tagsüber über Müdigkeit und Abgeschlagenheit. Die Entfernung der wuchernden Rachenmandeln gilt als eine besonders risikoarme Routineoperation.


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