Schrei-Babys – Wenn Kinder stark auf Reize reagieren

(ams). Babys schreien – das ist völlig normal. Auf diese Weise zeigen sie, dass sie Hunger haben oder müde sind. Problematisch wird es allerdings, wenn ein Säugling extrem viel brüllt und heult. „Wenn ein Kind an mindestens drei Tagen in der Woche etwa drei Stunden schreit und das mindestens drei Wochen lang, spricht man von einem Schrei-Baby“, erklärt Josef Zimmermann, Leiter der katholischen Erziehungs- und Familienberatungsstelle in Köln.

Ein Beispiel: Bei der katholischen Erziehungs- und Familienberatungsstelle in Köln suchte ein Ehepaar Rat, dessen erstes Kind fast ununterbrochen schrie, obwohl es gesund war. Die Eltern hatten alles versucht, um ihre zwei Monate alte Tochter zu beruhigen: Sie trugen sie durch die Wohnung, machten ruhige Musik an, sangen selber oder fuhren mit ihr im Auto durch die Gegend. Meist ohne Erfolg – die Kleine schrie trotzdem weiter. Dies setzte die Eltern zunehmend unter Stress und gab ihnen das Gefühl, als Eltern zu versagen. Hinzu kam das Gefühl der Mutter, ihre Tochter lehne sie ab. Dies wurde dadurch verstärkt, dass die Kleine manchmal still war, wenn der Vater sich um sie kümmerte. Dies belastete auch die Beziehung zwischen den Eltern. Bei beiden lagen schließlich die Nerven blank, sie waren übermüdet, erschöpft und fühlten sich ohnmächtig.

Beruhigungsversuche reduzieren

Diplom-Psychologe Zimmermann beruhigte das Ehepaar zunächst und versicherte ihnen, dass sie als Eltern nicht versagt hätten, weil ihr Kind viel schrie. Auf seinen Rat hin reduzierten sie die Beruhigungsversuche und wählten die Form aus, die sie selber am ehesten noch geduldig bleiben ließ und die sie dann konsequent beibehielten: Sie nahmen die Kleine eng in den Arm – ohne Druck, sie unbedingt ruhig zu bekommen. Sie begannen, sich nachts abzuwechseln, sodass immer einer von ihnen schlafen konnte. Außerdem baten sie ihre Eltern, sich tagsüber für ein bis zwei Stunden um das Baby zu kümmern – in dieser Zeit konnten sie ein wenig Abstand gewinnen. Dadurch besserte sich ihr Verhältnis zum Kind und auch untereinander. Nach sechs anstrengenden Monaten hörte die Kleine schließlich auf, stundenlang zu schreien.

Dass Babys anhaltend schreien, ist keine Seltenheit. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte schätzt, dass acht bis 29 Prozent der Säuglinge ein solches Verhalten zeigen. „Wenn Ihr Kind sehr viel weint und schreit, sollten Sie es zunächst von einem Kinderarzt untersuchen lassen“, empfiehlt Diplom-Psychologe Zimmermann. Der Mediziner kann körperliche Ursachen wie Schmerzen, Mangelernährung oder Unverträglichkeiten ausschließen. Meist ist das viele Schreien jedoch Ausdruck von Anpassungs- oder Regulationsstörungen – die Neugeborenen haben also Schwierigkeiten, sich nach der Geburt zurechtzufinden. So kann es Schrei-Babys schwerer fallen, einen ausgeglichenen Rhythmus zwischen Wachsein und Schlafen zu entwickeln. Sie sind schnell erregt und können ihre Erregung schlechter steuern als andere Säuglinge

Schrei-Babys können sich schlecht selbst beruhigen

Schrei-Babys fehlt noch die Erfahrung, wie sie sich selbst beruhigen können. „Säuglinge, die viel schreien, reagieren auch einfach stärker auf Reize als andere Kinder, etwa auf Lärm oder wenn sie an- und ausgezogen werden“, erläutert Zimmermann. Wenn die Eltern sehr gestresst sind, kann sich diese Unruhe ebenfalls auf das Kind übertragen. Das einzige Ziel der Eltern ist meist, das Schreien zu verhindern. Wenn dies allen Anstrengungen zum Trotz nicht gelingt, fühlen sie sich unfähig und oftmals von ihrem Kind abgelehnt. Dies kann Eltern niedergeschlagen oder wütend auf ihr Kind machen. Das Gefühl, der Elternrolle nicht gewachsen zu sein, belastet die Beziehung zum Kind und die Partnerschaft. Wenn das Baby zwischendurch einmal wach und ruhig ist, begegnen ihm die Eltern mit der Sorge, es könnte gleich wieder anfangen zu brüllen. So kann ein Teufelskreis zwischen Schreien, Überforderung der Eltern und zunehmender Anspannung entstehen.

Erwartungen herunterschrauben

„Um wieder einen positiven Kontakt herzustellen, sollten die Eltern zunächst ihre Erwartungen herunterschrauben und ihren Wert als Eltern nicht davon abhängig machen, dass sie ihr Kind schnell still bekommen“, sagt Zimmermann. Sie sollten sich klar machen, dass sie als Eltern nicht versagt haben, wenn ihr Baby schreit, und dass sie es nicht verhindern müssen. Wenn sie das Brüllen nicht mehr ertragen, können sie das Kind ins Bett legen und ihm sagen, dass sie in fünf Minuten wieder kommen. In dieser Zeit können sie zum Beispiel auf den Balkon gehen und sich dort selbst beruhigen. „Erfreuen Sie sich auch an Situationen, in denen Ihr Kind ruhig ist und wenden Sie sich ihm dann freundlich zu“, sagt der psychologische Psychotherapeut. Wenn die Eltern in diesen Minuten ihr Kind ansprechen und es berühren, können sie die angenehmen Seiten ihres Babys kennenlernen und stellen fest, dass es sie nicht ablehnt. Wichtig ist auch, dass die Eltern auf einen klar strukturierten Tagesablauf achten und so weit wie möglich für Entlastung sorgen. So können sie sich nachts mit ihrem Partner bei der Sorge um das Kind abwechseln. Tagsüber können sie Angehörige, Freunde oder Bekannte bitten, sich stundenweise um das Kind zu kümmern.

Hilfsangebote nutzen

Sinnvoll ist es auch, Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen. So können sich Eltern etwa an Familienberatungsstellen wenden. Außerdem gibt es spezielle „Schrei-Ambulanzen“, die oft an Geburtskliniken oder Beratungsstellen angegliedert sind. Adressen von nahegelegenen Schrei-Ambulanzen finden Eltern im Internet oder erhalten sie von ihrem Kinderarzt. „Scheuen Sie sich nicht, sich Hilfe zu holen. Für die weitere Entwicklung Ihres Kindes ist es wichtig, dass Ihr Verhältnis zu ihm wieder positiver und entspannter wird“, sagt der Leiter der katholischen Erziehungs- und Familienberatungsstelle in Köln.

Infos zur Kindergesundheit und Adressen von Schreiambulanzen.


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