Masern bedrohen jetzt auch Erwachsene

Schon letztes Jahr hätte es soweit sein sollen: Die Weltgesundheitsorganisation WHO hatte sich zum Ziel gesetzt, nach den Pocken und der Kinderlähmung bis Ende 2010 auch die Masern weltweit zum Verschwinden zu bringen. In Deutschland wurde leider nichts daraus, im Gegenteil: Zurzeit suchen regelrechte Masernwellen das Land heim. Vor allem in Bayern und Baden-Württemberg gibt es besonders viele Erkrankungen, berichtet die Stiftung Kindergesundheit in einer aktuellen Stellungnahme.
Das Schlimme dabei: Es werden immer häufiger Erwachsene mit der „Kinderkrankheit“ angesteckt. Ihre Zahl steigt in Deutschland seit 2004 kontinuierlich an: Waren zwischen 2001 und 2003 lediglich 8 bis 13 Prozent der gemeldeten Fälle älter als 20 Jahre, liegt der Anteil seit 2004 zwischen 17 und 24 Prozent und stieg 2009 sogar auf 31 Prozent. Fast ein Drittel aller an Masern Erkrankten ist also mittlerweile zwischen 20 und 39 Jahre alt. Erst über 40 kommen Masern kaum mehr vor.

Die Ständige Impfkommission (STIKO) beim Robert-Koch-Institut Berlin empfiehlt deshalb seit dem letzten Sommer eine Erweiterung der Standardimpfung gegen Masern auf jüngere Erwachsene. Zusätzlich zur – bereits bisher empfohlenen – zweimaligen Impfung von Kindern und Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr sollen nun auch alle nach 1970 geborenen Personen über 18 Jahren eine einmalige Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln erhalten. Voraussetzungen sind: Sie sind bisher noch gar nicht gegen Masern geimpft worden oder sie sind in der Kindheit nur einmal geimpft worden oder ihr Impfstatus gegen Masern ist unklar.

Der Münchner Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit: „Wir möchten besonders jungen Eltern ans Herz legen, ihren Impfpass zu überprüfen und sich gegebenenfalls impfen zu lassen. Sie schützen damit nicht nur sich selbst, sondern sind dann keine zusätzliche Infektionsquelle mehr für ungeimpfte Kinder. Die Impfung können nicht nur die Hausärzte, sondern auch Kinder- und Jugendärzte und Frauenärzte vornehmen. Die Kosten der Impfung tragen die Krankenkassen. Wer nur zum Impfen in die Arztpraxis geht, für den entfällt auch die Praxisgebühr“.

Dass die Masern längst keine „Kinder“-Krankheit mehr sind, zeigte sich bei einem Ausbruch der Krankheit in Hamburg. Die dortige Masernwelle mit insgesamt 216 Fällen ging von einem 27-jährigen Mann aus, der mit einem fieberhaften Infekt ins Krankenhaus kam und dort einen Klinikmitarbeiter sowie weitere Erwachsene im Wartebereich der Ambulanz angesteckt hat. Danach erkrankten Familienangehörige der Masernpatienten. Unter den ersten 59 Anfangsfällen waren hauptsächlich Jugendliche im Alter von 15 bis 19 Jahren mit 14 Fällen sowie junge Erwachsene im Alter von 20 bis 37 Jahren mit 17 Fällen betroffen.

 

Von wegen „harmlos“!

Laut WHO sind dank der weltweiten Impfkampagne die durch Masern bedingten Todesfälle zwischen 2000 und 2008 um 78 Prozent zurückgegangen. Trotzdem starben 2008 weltweit immer noch 164.000 Menschen an Masern, die meisten von ihnen Kinder in Entwicklungsländern. Das bedeutet Tag für Tag 450 Tote, jede Stunde über 18 Opfer der angeblich harmlosen Krankheit!

Das Masernvirus schwächt die natürlichen Abwehrkräfte des Körpers und macht den Betroffenen für Infektionen aller Art anfällig. Das führt dadurch häufig zu Lungenentzündungen, Mittelohrentzündungen, Vereiterungen der Nebenhöhlen und Entzündungen der Augen. Außerdem ist das Virus „neurotrop“ („nervengängig“) und kann zu Störungen des Nervensystems führen.

Bei vielen Kindern führt die Krankheit auch bei scheinbar komplikationslosem Verlauf zu zentralnervösen Auffälligkeiten, die sich nicht selten in Verhaltens- und Konzentrationsstörungen der Kinder über lange Zeit hin auswirken können. Am meisten gefürchtet ist die Masern-Enzephalitis, also eine Entzündung des Gehirns. Experten des Robert-Koch-Instituts rechnen auf 500 bis 2000 Masernerkrankungen einmal mit einer Masern-Enzephalitis. Die Sterblichkeit bei dieser schweren Komplikation ist hoch (zehn bis 20 Prozent). Menschen, die nach ihrem 10. Geburtstag oder sogar erst als Erwachsene Masern durchmachen, erkranken zwei- bis dreimal häufiger an einer Enzephalitis als Kinder unter fünf Jahren.

 

Zweite Impfung oft versäumt

Zur Bekämpfung der Krankheit empfiehlt die WHO eine Durchimpfung von mindestens 95 Prozent der Bevölkerung mit dem Dreifachimpfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln. In Deutschland wird die erste Impfung im Alter von 11 bis 14 Monaten empfohlen, die zweite sollte bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr durchgeführt worden sein.

Für die erste Impfspritze wird der erstrebte Wert unter den Zweijährigen annähernd erreicht. Die zweite empfohlene Impfung erhalten dagegen deutlich weniger Kinder. Bundesweit beträgt die Impfquote für die zweite Masernimpfung lediglich 89 Prozent. Damit liegt die Quote unter 95 Prozent für beide Impfungen, die nötig wären, um die Masern zu eliminieren.

Um das von der Weltgesundheitsorganisation nunmehr bis 2015 verlängerte Ziel der Masernelimination zu erreichen, dürften in Deutschland jährlich nur bis zu 85 Erkrankungen auftreten. 2010 registrierte das Robert-Koch-Institut jedoch 780 Masernfälle, 209 mehr als im Jahr zuvor. In diesem Jahr 2011 sind der Berliner Gesundheitsbehörde bereits bis Ende April schon 368 Erkrankungen gemeldet worden. Damit gehört Deutschland im europäischen Vergleich zu den Ländern mit den meisten Masernerkrankungen.

Gefahr für junge Babys und kranke Kinder

Eine gesetzliche Pflicht, ihre Kinder impfen zu lassen, gibt es für deutsche Eltern (noch) nicht. „Eltern, die ihrer elterlichen Sorge zum Impfen nicht nachkommen, gefährden allerdings nicht nur die Gesundheit des eigenen Kindes, sondern auch die anderer Menschen“, heißt es in einer Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin. Besucht nämlich ein ungeimpftes Kind eine Kindertagesstätte, einen Kindergarten oder eine Schule, besteht einerseits für dieses Kind selbst das Risiko, dort angesteckt zu werden, andererseits besteht auch die Gefahr, dass dieses Kind andere ungeschützte Kinder ansteckt.

Die Ansteckung mit Masern in Gemeinschaftseinrichtungen bringt besonders Kinder in Gefahr, die aufgrund einer so genannten Kontraindikation nicht geimpft werden können, zum Beispiel bei einer angeborenen Immunstörung oder weil sie wegen einer bösartigen Krankheit eine Immunitätsunterdrückende Behandlung erhalten. Ebenfalls gefährdet sind junge und deshalb nach den Empfehlungen der STIKO noch nicht vollständig geimpfte Babys und kleine Kinder im ersten und zweiten Lebensjahr.

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte BVKJ fordert schon seit Jahren einen Impfnachweis für alle Kinder, die Gemeinschaftseinrichtungen besuchen, etwa nach dem amerikanischen Vorbild „no vaccination – no school“. Das bedeutet: Kein Kind sollte ohne einen vollständigen Impfstatus eine Gemeinschaftseinrichtung besuchen. Diese einfache Regelung könnte den Weg aus dem Masern-Dilemma weisen. Mit ihrer Hilfe ist die Krankheit in Nord- und Südamerika, in den skandinavischen Ländern und in vielen anderen Ländern der Erde bereits eliminiert worden.

SSPE – eine tödliche Diagnose

Die Buchstaben SSPE bedeuten eine sehr seltene, aber katastrophale Diagnose: Subakute (also langsam verlaufende) sklerosierende (mit Gewebsumbau einhergehende) Panenzephalitis (Entzündung, die das gesamte Gehirn befällt). Diese Komplikation ist erst 1969 als Spätfolge von Masern beschrieben worden. SSPE wird zu den so genannten „Slow virus“-Erkrankungen gerechnet und tritt oft erst mehrere Jahre nach der durchgemachten Masernerkrankung auf.
Sie beginnt mit Verhaltensauffälligkeiten und führt meist innerhalb von sechs bis zwölf Monaten (manchmal allerdings im Laufe mehrerer Jahre) unter fortschreitendem Abbau geistiger und motorischer Fähigkeiten zur Zerstörung des Gehirns und schließlich zum Tod. Eine Analyse der Erhebungseinheit für seltene pädiatrische Erkrankungen in Deutschland (ESPED) ergab, dass zwischen 2003 und 2009 allein in Deutschland 19 Kinder an SSPE erkrankten.

Den verhängnisvollen Verlauf von SSPE zeigt das Beispiel der kleinen Michaela in Duisburg. Sie war während des großen Masern-Ausbruchs in Nordrhein-Westfalen 2006 im Alter von vier Monaten mit Masern angesteckt worden, in einem Alter also, als sie noch nicht geimpft werden konnte. Nach einer zunächst unauffälligen Entwicklung begann das Kind im Alter von zweieinhalb Jahren zu stolpern und zu stürzen. Sie verlernte allmählich alles, was sie bereits beherrscht hatte, verlor auch die Sprache und war schließlich nicht mehr reaktionsfähig. Zuletzt lag sie in Wachkoma und musste über eine Sonde ernährt werden, ihr Tod war absehbar.

In Internetforen von Impfgegnern wird immer wieder behauptet, die SSPE könne durch eine Masernimpfung hervorgerufen werden. Genaue Untersuchungen der Erregertypen haben jedoch ergeben: Die SSPE-Erreger waren in allen Fällen so genannte Wildviren der Krankheit und nie die in den Impfstoffen verwendeten Impfviren. SSPE ist eindeutig eine Folge der Masern und nicht der Masernimpfung.

Was tun, wenn jemand die Masern hat?

Masern sind meldepflichtig! Falls ein Kind an Masern erkrankt ist, darf es laut Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Gemeinschaftseinrichtungen, also Kita, Kindergarten oder Schule besuchen, damit andere Kinder oder Erzieher oder Lehrer nicht angesteckt werden. Eine Wiederzulassung ist erst nach Abklingen der Krankheitssymptome, jedoch frühestens fünf Tage nach Auftreten des Masern-Ausschlags möglich. Professor Berthold Koletzko: „Ein infiziertes Kind ist eine große Gefahr für andere ungeschützte Kinder“.

Gleiches gilt auch für empfängliche enge Kontaktpersonen (Familienangehörige und Kontaktpersonen in einer Klasse/Gruppe eines Masernerkrankten), die nicht durch eine frühere Masernerkrankung oder eine Impfung immun sind. Sie sind für die Dauer von mindestens 14 Tagen nach dem letzten Kontakt vom Besuch auszuschließen. Die Stiftung Kindergesundheit weist mit Nachdruck darauf hin, dass Eltern nach dem Gesetz verpflichtet sind, die Gemeinschaftseinrichtung unverzüglich über die Erkrankung ihres Kindes zu informieren.

Kontaktpersonen, die nicht geimpft sind und die nicht Masern durchgemacht haben, wird zum Schutz vor Ausbruch der Erkrankung eine so genannte post-expositionelle Impfung mit MMR-Impfstoff empfohlen, und zwar möglichst innerhalb der ersten drei Tage nach dem Kontakt mit dem Masernkranken (Ausnahme: Schwangerschaft). Geimpfte Kontaktpersonen sind vor der Erkrankung sicher geschützt.

Stiftung Kindergesundheit
www.kindergesundheit.de