Säuglingssterblichkeit – der Kampf ist noch nicht gewonnen

Die gute Nachricht vorweg: Die Lebenserwartung für kleine Mädchen, die heute zur Welt kommen, liegt statisch gesehen bei 83,1 Jahren. Sie werden damit vier Jahre älter als die vor 20 Jahren geborenen weiblichen Babys. Bei Jungen beträgt der Zugewinn an Lebensjahren sogar sechs Jahre, ihre aktuelle Lebenserwartung liegt bei 78,2 Jahren.

Leider haben nicht alle Neugeborenen die Chance, diese hohe Lebensspanne zu erleben: Jedes 300. Baby stirbt hierzulande, ohne seinen ersten Geburtstag erlebt zu haben. Mit einer Säuglingssterblichkeit von 3,3 pro 1.000 Geburten liegt Deutschland im internationalen Vergleich lediglich im Mittelfeld, beklagt die Stiftung Kindergesundheit in ihrer aktuellen Stellungnahme.
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„Dank der Fortschritte in der Perinatalmedizin konnte die Säuglingssterblichkeit in den letzten 50 Jahren auch bei uns um 90 Prozent gesenkt werden, sagt Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Dr. h.c. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. „Es bleibt dennoch beunruhigend, dass wir trotz hohen Aufwendungen für unser Gesundheitssystem immer noch nicht die erheblich niedrigeren Werte der skandinavischen Länder erreichen können“.

Die Säuglingssterblichkeit gilt als ein Maß für die Qualität der medizinischen Versorgung in einem Land. Sie umfasst die Anzahl der Todesfälle im ersten Lebensjahr, bezogen auf 1.000 Lebendgeborene eines Jahrgangs. Dabei wird unterschieden zwischen der Neonatalsterblichkeit in den ersten vier Lebenswochen und der Nachsterblichkeit zwischen 29 und 365 Tagen. Zur perinatalen Sterblichkeit werden alle Babys gezählt, die tot zur Welt kommen oder in den ersten sieben Tagen nach der Geburt sterben.

Es liegt nicht am Geld allein

Im europäischen Vergleich ist die Säuglingssterblichkeit in den skandinavischen Ländern Schweden, Finnland und Norwegen am niedrigsten, jedoch auch Italien, Frankreich, Griechenland, Spanien und Österreich haben bessere Werte als Deutschland. Die finanzielle Lage der einzelnen Länder allein kann diese Unterschiede nicht erklären, unterstreicht die Stiftung Kindergesundheit. So liegen beispielsweise in Schweden die pro Kopf Ausgaben für Gesundheit um etwa sieben Prozent niedriger als in der Bundesrepublik.

Die Suche nach den Ursachen der Säuglingssterblichkeit führt zu mehreren Faktoren, die sich nicht immer einfach erklären lassen.

Die Stiftung Kindergesundheit nennt Beispiele:

Alter der Mütter: Viele Frauen bekommen ihre Kinder heute in höherem Alter als früher. Damit steigen auch die Risiken für Frühgeburten und Fehlbildungen. Zu früh geborene Babys sind jedoch besonders stark durch den Tod im ersten Lebensjahr bedroht. Ihr Anteil hat in den letzten 20 Jahren in Deutschland von 7,6 auf 9,2 Prozent zugenommen. Dabei fällt es auf, dass der Frühgeborenenanteil in Schweden im gleichen Zeitraum konstant bei 5,9 bis 6,2 Prozent geblieben ist.

Soziale Lage: Die Säuglingssterblichkeit folgt einem sozialen Gefälle. Sie ist in den benachteiligten sozialen Gruppen am höchsten. Eine höhere Säuglingssterblichkeit wird außerdem für Kinder berichtet, die von ausländischen Frauen geboren werden. Als Gründe kommen eine geringere oder spätere Wahrnehmung der Vorsorgeuntersuchungen und auch das Rauchen während der Schwangerschaft in Frage, so die Stiftung Kindergesundheit.

Rauchen in der Schwangerschaft: Rauchende Mütter erleiden häufiger eine Fehlgeburt als Nichtraucherinnen. Ihr Risiko für vorzeitige Blutungen, einen ungünstigen Sitz der Plazenta in der Gebärmutter („Vorfall“), für einen vorzeitigen Blasensprung und auch für Frühgeburten ist erhöht. Das Risiko für den gefürchteten plötzlichen Säuglingstod (SIDS) wird durch das Rauchen während der Schwangerschaft deutlich erhöht. Bei einem täglichen Konsum der werdenden Mutter von mehr als zehn Zigaretten steigt das Risiko für SIDS auf das Siebenfache.

Übergewicht der Mutter ist ein zunehmendes Risiko auch für die Gesundheit der Kinder. Eine hochaktuelle Analyse der schwedischen Geburten- und Sterberegister ermittelte, dass mit dem Body-Mass-Index BMI der Mutter auch das Sterberisiko des Kindes nach der Geburt ansteigt. Auf 1.000 Neugeborene von normalgewichtigen Schwangeren kamen im Durchschnitt 2,4 Todesfälle in den ersten 28 Lebenstagen. Bei einem Übergewicht der Mütter stieg die Sterblichkeit auf 3,0 pro 1.000 Kinder. Bei den Babys von adipösen (fettsüchtigen) Frauen stieg das Risiko weiter an auf bis zu 5,8 Todesfälle pro 1.000 in der Gruppe mit extremer Fettsucht (Adipositas Grad III, BMI über 40).

Stillen senkt die Säuglingssterblichkeit und verringert insbesondere das Risiko des Plötzlichen Kindstods SIDS. Doch nur rund ein Viertel der Kinder in Deutschland werden den Empfehlungen der Nationalen Stillkommission und der Stiftung Kindergesundheit entsprechend sechs Monate lang ausschließlich bzw. überwiegend gestillt. Besonders Raucherinnen, Frauen aus benachteiligten sozialen Gruppen sowie Mütter unter 30 Jahren stillen zu selten oder zu kurz.

Berufstätigkeit allein erhöht nicht das Risiko der Säuglingssterblichkeit. Bestimmte Tätigkeiten jedoch, zum Beispiel in der Industrie, im Schichtdienst, in der Landwirtschaft oder als Selbständige (z.B. als mithelfendes Familienmitglied im eigenen Geschäft) sind für Schwangere mit höheren Belastungen verbunden. So ist die Rate der Frühgeburten bei Frauen, die während der Arbeit länger als drei Stunden am Tage stehen müssen, deutlich höher als ohne diese Belastung.

Vorsorge: Bei Müttern, die während ihrer Schwangerschaft ihre Frauenärztin/ihren Frauenarzt häufiger als zehnmal zur Vorsorge aufsuchen, liegt der Anteil der Frühgeburten bei nur 1,8 Prozent. Bei den „Standardversorgten“ beträgt er 3,3 Prozent. Von den Schwangeren dagegen, die die Vorsorge seltener als empfohlen wahrnehmen, bringen 14,9 Prozent ihr Baby vorzeitig zur Welt.

Geburtsort: Die höchsten Raten für Frühgeburten und Säuglingssterblichkeit werden in Regionen registriert, die durch hohe Arbeitslosigkeit und einen hohen Anteil an Sozialhilfeempfängern charakterisiert sind. Neben Lebensstilfaktoren dürfte auch die aus der sozial benachteiligten Lebenssituation erwachsende Stressbelastung ein wichtiger Grund für die höhere Frühgeburtenrate sein.

Erfahrung der Geburtskliniken: Viele Studien belegen, dass das Sterberisiko der Kinder in großen Perinatal-Zentren deutlich geringer ist als in kleinen Frauen- und Kinderkliniken, die über eine geringere Erfahrung und/oder eine unzureichende personelle bzw. apparative Ausstattung verfügen. Eine Untersuchung in Hessen wies deutlich darauf hin, dass die Sterblichkeit auch von reifgeborenen Babys ohne Risiken von der Größe der geburtsmedizinischen Klinik abhängt, in der diese Kinder geboren werden. Fand die Geburt in einer Klinik mit weniger als 500 Geburten pro Jahr statt, lag die perinatale Sterblichkeit mehr als dreifach höher im Vergleich zu einer Klinik mit mehr als 1500 Geburten pro Jahr. Bei Frühgeborenen war dieser Unterschied noch deutlicher.

Dies könnte auch eine Ursache für die deutlich niedrigere Säuglingssterblichkeit in Schweden und Finnland als in Deutschland sein. Umgerechnet auf unsere Geburtenzahl würden in Deutschland 600 bis 1.000 Säuglinge weniger sterben, wenn wir die niedrigen Werte dieser skandinavischen Länder erreichen könnten, so Professor Dr. Rossi, Vivantes Klinikum Neukölln, Berlin. Dort gibt es bezogen auf die Bevölkerung viel weniger geburtshilfliche Kliniken, die dafür aber im Durchschnitt deutlich mehr Frauen entbinden und somit mehr Erfahrung auch mit Risikosituationen haben. Es könnte sich also lohnen, auch in Deutschland die Geburtshilfe noch stärker zu bündeln. Dass die Zahl der Entbindungen in einer Klinik tatsächlich Auswirkungen auf die Säuglingssterblichkeit hat, zeigt auch das Beispiel Portugals. Dieses Land hatte im Jahr 1990 mit 11,0 Promille eine weit über dem europäischen Niveau liegende Säuglingssterblichkeit.

Das hat die Portugiesen veranlasst, die perinatalmedizinische Versorgung grundlegend umzustrukturieren. Die Zahl der geburtsmedizinischen Kliniken wurde von 200 auf 51 reduziert, alle Kliniken mit weniger als 1500 Geburten pro Jahr wurden geschlossen. Die Zahl der in einer Klinik geborenen Babys stieg in den folgenden Jahren von 74 Prozent auf 99 Prozent an. Gleichzeitig kam es zu einer im europäischen Vergleich eimaligen und drastischen Reduktion der Säuglingssterblichkeit von 11,0 Promille (1990) auf 3,6 Promille (2006); damit war die Säuglingssterblichkeit sogar niedriger als in Deutschland (damals 3,8 Promille).

Ökonomischer Druck auf die Kliniken

Einen Versuch in die gleiche Richtung hat der Gemeinsame Bundesausschuss aus Ärzten und Krankenkassen G-BA auch hierzulande gestartet. Die Geburtskliniken wurden in vier Stufen („Level“) eingeteilt und für jede Stufe die erforderlichen Qualitätskriterien formuliert. Sehr kleine Frühgeborene, die bei ihrer Geburt weniger als 1250 Gramm wiegen, sollen möglichst in Perinatal-Zentren der Level 1 oder 2 betreut werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Babys sterben, ist in Kliniken mit geringen Fallzahlen um 80 Prozent höher als in Kliniken mit hoher Fallzahl. Doch ein Versuch des G-BA, für die Perinatal-Zentren Level 1 und 2 Mindestmengen für die Behandlung von Frühgeborenen einzuführen, ist an der juristischen Klage von Krankenhäusern gescheitert. Um die Versorgung von Frühgeborenen gibt es einen unheilvollen Wettbewerb unter den Spezialeinrichtungen. Es hängt damit zusammen, dass der ökonomische Druck auf die Kliniken zugenommen hat und dass die Behandlung von Frühgeborenen lukrativ vergütet wird.

Die Stiftung Kindergesundheit nennt Beispiele:
Eine normale Geburt bringt der Klinik rund 2.500 Euro. Ein Frühchen bedeutet ein Vielfaches an Umsatz. Für die Betreuung eines extrem unreifen Frühgeborenen unter 750 Gramm Geburtsgewicht kann die Klinik der Krankenkasse etwa 110.000 Euro in Rechnung stellen. Es ist nicht verwunderlich, dass die Kliniken gern Frühchen betreuen möchten und sich gegen die Festschreibung hoher Fallzahlen wehren.

„Beim unbefriedigenden Abschneiden Deutschlands in der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit spielen derartige Unzulänglichkeiten des Versorgungssystems ohne Zweifel eine maßgebliche Rolle“, resümiert Stiftungsvorsitzender Professor Berthold Koletzko. „Wir dürfen aber auch die anderen Einflüsse nicht außer Acht lassen. Wir müssen dafür sorgen, dass Schwangere und junge Mütter weniger chronischen Stress erleben und dass ausländische Familien besser über die Vorsorgeangebote unseres Gesundheitssystems informiert werden. Besonders die bildungsfernen Familien sozial benachteiligter Lebensbereiche brauchen mehr Hilfe auch finanzieller Art, um sie in ihrer Verantwortung für die Gesundheit ihrer Kinder zu stärken. Unser Ziel muss bleiben, allen Kindern die gleichen Chancen für ein gesundes Leben und Überleben zu ermöglichen“.

Quelle: Stiftung Kindergesundheit
Internet: www.kindergesundheit.de

Bild: Pixabay – Lizenz: Public Domain CC0

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