Warum gehen Deutschland die Kinder aus? Was machen wir falsch?

Die neuen Kinderzahlen des Statistischen Bundesamtes stellen der bundesrepublikanischen Gesellschaft und ihren politischen Entscheidern nach Ansicht des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) ein zweifaches Armutszeugnis aus. Zum einen, weil trotz des hohen Pro-Kopf-Einkommens etwa 2,5 Millionen Kinder in Armut aufwachsen: nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes etwa 16% der unter 10-Jährigen und etwa 19% der 10-20-Jährigen (Datenreport 2008). Zum zweiten, weil der Anteil der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren an der Gesamtbevölkerung stetig sinkt, bis zum Jahre 2030 um weitere 2,3 Millionen von jetzt 15,2 auf 13,1 Mio (Statistisches Bundesamt, 2009).

BVKJ-Präsident Dr. Wolfram Hartmann: „Unseren politischen Entscheidungsträgern gelang und gelingt es im Gegensatz zu den Verantwortlichen in einigen anderen europäischen Nachbarstaaten nicht, familienfreundliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Entscheidung, ein oder mehrere Kinder zu bekommen, bedeutet heute in diesem Land, ein Armutsrisiko einzugehen. 37% aller Einelternfamilien in Deutschland gelten als arm (Datenreport 2008), Familien mit drei und mehr Kindern sind überproportional von Armut betroffen  (19%). Die höchste Armutsquote aller Haushaltstypen findet sich bei den Einelternhaushalten mit mehr als zwei Kindern (40%).

Kinder, die in Armut aufwachsen, haben für die Zukunft signifikant schlechtere Bildungschancen. Die gesellschaftspolitische Weichenstellung unserer Gesellschaft führt in die Vergreisung unseres Landes und gefährdet damit dauerhaft die sozialen Vorsorgesysteme, den Industriestandort Deutschland und den künftigen sozialen Frieden. Denn ohne Kinder und nachhaltige Reformen gibt es zum einen keine soziale Absicherung und keine dauerhafte Leistungsfähigkeit unserer innovativen Industrie. Zum anderen werden es in Zukunft die immer weniger werdenden jungen, arbeitsfähigen Menschen nicht einsehen, immer größere Teile ihrer Einkünfte an die im Ruhestand befindliche, immer größer werdende ältere Generation abzugeben.

Die gegenwärtigen Familiengesetze, die Verteilung der Steuergelder und die aktuellen direkten Fördermaßnahmen schaffen immer noch keinen zuverlässigen Rahmen, in dem Eltern ohne Sorgen ihre Entscheidung für ein Kind treffen. Erst wenn Beruf und Familie selbstverständlich miteinander vereinbar sind, wird die Lust zum Kinderkriegen steigen. Vätermonate, Elterngeld, der sukzessive Ausbau von Betreuungseinrichtungen – all das genügt noch nicht, um vor allem gut ausgebildeten Frauen die Angst zu nehmen, Kinder zu bekommen. Dazu kommt die Unsicherheit, was geschieht, wenn Ehen scheitern, was heute leider vielfach zu beobachten ist. Geschiedene Mütter sollen nach einem aktuellen Urteil des Bundesgerichtshofes Vollzeit arbeiten, wenn das Kind drei Jahre alt ist und es eine Betreuungsmöglichkeit gibt. Viele junge Frauen werden das als Signal verstehen, nach einer Scheidung sowohl für den Unterhalt als auch für die Erziehung der Kinder zuständig zu sein.“

Ein besonderes Problem bestehe laut Hartmann zudem bei Kindern, die ohne ausreichende familiäre Förderung aufwachsen. „Es gibt keine bundesweiten Vorgaben für strukturierte Förderkonzepte der frühkindlichen Entwicklungsförderung von Kindern aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien sowie aus Familien mit Migrationshintergrund in Kindergärten, um diesen eine ausreichende Entfaltung ihrer sprachlichen, motorischen und sozialen Kompetenzen zu ermöglichen. Nur so aber besteht für diese Kinder eine Chance auf eine gute Schul- und Ausbildungslaufbahn und – damit verbunden – gute soziale Prognose. Wir können uns auf dem zu erwartenden demographischen Hintergrund kein einziges Kind erlauben, welches nicht optimal seinen Fähigkeiten entsprechend gefördert und ausgebildet wird.“

Hartmann sieht aber nicht nur die politischen Entscheider in der Pflicht, sondern auch die Arbeitgeber. „Aus den Gesprächen mit jungen Eltern in unseren Praxen wissen wir, dass sich viele junge Menschen Kinder wünschen, aber ihre beruflichen Verhältnisse sind unsicher, Arbeitsverhältnisse sind befristet und oft an unbegrenzte zeitliche Flexibilität gebunden. Besonders gut qualifizierte junge Leute sehen kaum einen Weg, berufliche Anforderungen und Elternschaft miteinander vereinbaren zu können. Zudem sind die finanziellen Rahmenbedingungen für junge Berufseinsteiger nach Abschluss eines Studiums häufig so schlecht, dass keinerlei Spielraum für Kinder da ist.“

Hartmann fasst zusammen: „Der Mangel an Kindern in Deutschland ist kein Schicksal, dem zu entrinnen unmöglich ist. Aber er ist nur zu bekämpfen, wenn den Lippenbekenntnissen der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten für eine kinderfreundliche Gesellschaft sehr bald nachhaltig Taten folgen.

 

BERUFSVERBAND DER KINDER- UND JUGENDÄRZTE e. V.         
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